Das letzte Kapitel
Geehrte Leserinnen, geehrte Leser, unsere Erzählung geht bald zu Ende. Nachdem wir einen langem und zeitweise mühsamen Weg zurückgelegt hatten, gelangten wir zu solch einem einfachen, und vor allem voraussagbaren Ergebnis, dass ich - offen gesagt- ein wenig verwirrt bin. War es wirklich nötig, so viele Wörter zu verschwenden?
Die Gründe für die Niederlage der Sowjetischen Luftstreitkräfte im Sommer 1941 waren genau dieselben, wie die Gründe für die Niederlage der Roten Armee generell. Die Streitkräfte der UdSSR waren Teil einer äußerlich unzerstörbaren, aber innerlich schwer kranken Gesellschaft, die Luftstreitkräfte waren nur ein Teil – wenn auch ein sehr spezifischer Teil - der Streitkräfte, die als Werkzeug eines aggressiven totalitären Regimes aufgestellt wurden. Der Wirrwarr von Losungen, Plakaten, munteren Liedern und Berichten über die beispiellosen Siege im sozialistischen Wettbewerb verebbte nach den Schlägen des Kriegsgewitters - und die Wahrheit kam zum Vorschein. Das war eine ziemlich unangenehme Wahrheit darüber, dass bei weitem nicht das ganze Sowjetvolk, bereit war, ein solches Land und ein solches Regime geschlossen zu verteidigen… Die Tragödie des Jahres 1941 wurde von unserem Besten Freund der effizienten Manager vorbereitet, und lediglich eine ärgere Brutalität, Lasterhaftigkeit und Dummheit des Hitlerregimes, die riesige Größe und Ressourcen des Landes sowie Hilfe seitens der mächtigen Kräfte des demokratischen Westens haben die Möglichkeit gegeben, um den Preis von viel Blut alles während der ersten Kriegsmonate Verlorene
zurückzuerlangen, den Feind zu überwältigen und den Krieg in Berlin abzuschließen.
Was spezifische flugtechnische Probleme und Schlußfolgerungen anbetrifft, so kann man diese folgenderweise formulieren:
1. Der Hauptbestandteil des Systems „Flugzeug – Flieger“ ist ein Flieger. Das ist richtig sogar heute, in der Zeit der Bordcomputer und zielsuchenden Raketen. Um so mehr trifft diese Schlußfolgerung auf die Luftwaffe der 40-er Jahre zu.
2. Die Kampfvorbereitung eines Fliegers stellt eine untrennbare Verschmelzung von Können und Wunsch dar. Die Fähigkeit zu fliegen, zu schießen, zu bomben, zu finden, auszuweichen - und die Bereitschaft, sein Leben für den Sieg seiner Staffel, seiner Armee, seines Landes zu opfern. In der stalinschen Armee verhielt es sich gleich schlecht sowohl mit dem ersten, als auch mit dem zweiten Bestandteil der Kampfvorbereitung. Im Endeffekt erwies sich die Kampffähigkeit der Streitkräfte (insbesondere der Luftwaffe) als zum Erstaunen gering: die fehlende gebührende Motivation wurde durch ein niedriges Niveau der Flug-, Schiess- und taktische Vorbereitung verstärkt.
3. Für eine erfolgreiche Kampfanwendung braucht man im System „Flugzeug - Flieger“ ein Flugzeug mit den taktisch–technischen Daten, die mit denen der gegnerischen Flugzeuge vergleichbar sind. Die Grenzen des Bereiches dieser „Vergleichbarkeit“ sind sehr breit. Ein geringer (10-15%) Vorsprung (oder im Gegenteil, der Rückstand) dieses oder jenes Parameters haben keine wesentliche Bedeutung und können fast immer durch die Wahl einer optimalen Taktik ausgeglichen werden.
4. Die Leistungsfähigkeit und Effektivität der ganzen Luftstreitkräfte sind noch weniger von den taktisch-technischen Daten der Flugzeuge abhängig, und werden in einem größeren Maße durch die TAKTIK der Kampfanwendung der einzelnen Bestandteile des Systems, ihre Zusammenwirkung miteinander und mit den Bodenstreitkräften; durch das Funktionieren des Fernmelde- und Nachrichtendienstes, der bodengestützten technischen Dienste, Entwicklung der Flugplatzbasis und vor allem und am wichtigsten – das Vorhandensein einer kompetenten Leitung bestimmt.
Fast alles Obengenannte kann weder gekauft, noch gestohlen noch kopiert werden. Man muß all das in seinem eigenen Lande sowie seiner eigenen Armee schaffen. Die Möglichkeit, all das zu schaffen, ist im entscheidenden Grad dadurch bestimmt, was man üblicherweise „menschlichen Faktor“ nennt.
5. Stalin (zur Kürze werden wir so die höchste militär-politische Leitung der UdSSR nennen)
konzentrierte frühestens Mitte der 30er Jahre alle seine Bemühungen (und alle Ressourcen des reichsten Landes der Welt) auf eine allseitige Vorbereitung zum künftigen Krieg. Insbesondere wurde das Ziel gesetzt, die mächtigste Luftwaffe der Welt aufzustellen.
6. Am besten und erfolgreichsten wurde die Teilaufgabe zur Schaffung der materiell-technischen Kriegsführungsmittel gelöst. Insbesondere wurde die Flugzeugindustrie aufgebaut, die fähig war, Kampfflugzeuge in den Mengen herzustellen, die kein europäisches Land verkraften konnte; es wurden zahlreiche wissenschaftliche Forschungs- sowie Konstrukteurorganisationen errichtet. Der Erfolg war durch eine beispiellose Konzentration der materiellen und finanziellen Ressourcen sowie
eine erstaunliche Kurzsichtigkeit (wenn nicht die Käuflichkeit) von westlichen Politikern bestimmt, die Stalin erlaubten, zusammengeraubte finanzielle Ressourcen in modernste Militärtechnologien zu verwandeln.
7. Im Ergebnis hatte Stalin zum Anfang 1939 einen riesengroßen Bestand (ums mehrfache größer, als jeder der an dem im selben Jahr begonnenen Weltkrieg Beteiligten hatte) an Flugzeugen, die in ihren taktisch-technischen Werten zumindest den besten Kampfflugzeugen der Welt nicht nachstanden.
8. Bedeutend schlechter wurden Fragen des Aufbaus des Systems selbst, das Luftwaffe genannt wurde, gelöst. Es gab viele Gründe dafür. Es ist im Prinzip schwierig, die systembezogene Herangehensweise mit der marxistisch-leninistischen Weltanschauung, basiert auf der Verabsolutierung separater Einzelheiten, zu verbinden.
Unzulässig niedrig war auch das allgemeine Bildungsniveau und das kulturelle Niveau unseres kollektiven “Stalin“. Letztendlich war das Personalpotenzial ganz anders: wurden in wissenschaftlichen Forschungsinstituten und Versuchs- und Konstrukteurbüros die Anwesenheit (zeitweise auch als Leitungskräfte) „sozial fremde“, parteilose Fachleute, echte Ingenieure und Wissenschaftler der alten russischen Schule geduldet, so gab es in der Leitung der Armee, Luftwaffe, Militärindustrie Ende der 1930er Jahre keine einzigen „Fremden“. Die von Stalin empfohlenen Leitungskräfte waren bestenfalls zu einer sehr intensiven, aber äußerst ineffizienten Arbeit fähig. Schlimmstenfalls waren es unkundige Hochstapler, Intriganten und Möchtegerne, die in einer normalen Gesellschaft nicht einmal mit der Leitung einer Müllarbeiterbrigade beauftragt worden wären.
9. Somit ist zum Anfang des Zweiten Weltkrieges eine ganz paradoxe mit einer normalen menschlichen Sprache nicht beschreibbare Situation entstanden: Es gab viele Flugzeuge, Flieger, Flugplätze, Flugzeughersteller, Fliegerschulen und Militärfliegerschulen. Dabei fehlten rundum Tankfahrzeuge, Schläuche und Trichter, Batterien und Anlasser, Funkgeräte und Telefonkabel. Es gab modernste Schnellfeuerflaks, aber es gab keine Geschosse dafür, es gab einzigartige Systeme für die Aufladung der Brennstofftanks mit Inertgas, aber auf den Flugplätzen gab es keinen Stickstoff, es gab einen großen Flugzeugpark, aber es gab keine Schneeräumungstraktoren auf den Flugplätzen, es gab ein riesengroßes Fliegerschulennetz, aber die Offiziersschüler waren mit dem Gamaschendienst und Waggonentladen beschäftigt, man hatte den europagrößten Erdölabbau, aber es gab keinen hochoktanigen Flugbenzin… Kurz gesagt, es gibt alles – aber die wirkliche Kampffähigkeit der Luftwaffe ist winzig klein.
10. Im Vorfeld des Krieges hat Stalin besondere „Stalinsche Leitungsmethoden“ auf die Luftwaffe, Flugzeugindustrie und Wissenschaft in einem höheren Maße ausgedehnt, d.h administrativer Druck, Massenrepressalien, Erzeugung der Atmosphäre von Angst, Speichelleckerei und blutigen Intrigen. Im Ergebnis wurden eingespielte wissenschaftliche Kollektive aufgelöst, die besten Fachleute wurden körperlich vernichtet (oder für eine lange Zeit von der schöpferischen Arbeit ferngehalten), der natürliche Verlauf der Erneuerung des Flugzeugparks der sowjetischen Luftstreitkräfte wurde auf 2-3 Jahre verzögert.
11. Einige Wochen und Tage vor Beginn des Krieges gegen Deutschland vernichtete Stalin den größten und wahrscheinlich den besten Teil des Luftwaffenkommandos. Es klappte nicht, zu klären, weshalb gerade im Frühling 1941 ausgerechnet das Luftwaffenkommando zum nächsten Opfer der nächsten Welle des Massenterrors wurde. Die Folgen dieses Gemetzels im Hinblick auf die weitere Demoralisierung der Streitkräfte liegen auf der Hand und bedürfen keinerlei Erläuterungen.
12. Zum Stand am 22. Juni 1941 war der Teil (ungefähr die Hälfte) der sowjetischen Luftwaffe, die in den westlichen Militärbezirken stationiert war, der Luftwaffe des Gegners in allen Parametern sogar zahlenmäßig ums vielfache überlegen (Anzahl der Flugzeuge, Besatzungen, Staffeln, Stationierungsflugplätze). Der technische Zustand und die taktisch-technischen Daten der Kampfflugzeuge waren befriedigend und generell entsprachen sie den Anforderungen des Krieges. Auf jeden Fall stand der materielle Teil der sowjetischen Geschwader der Luftwaffe der Westlichen Alliierten, in den Kämpfen gegen welche die deutsche Luftwaffe schwere Verluste (Frankreich) oder schwere Verluste und Niederlage (England) erlitten, nicht nach.
13. Der Mythos über einen „plötzlichen Angriff“, der in der sowjetischen Historiographie viele Jahre lang gepflegt wurde, war von Anfang und bis zum Ende erfunden worden. Ganz zu schweigen davon, daß die damals geltenden Kampfstatuten der Luftwaffe ein notwendiges Maßnahmensystem vorsahen, die die Möglichkeit eines „plötzlichen Angriffs“ auf die Stationierungsflugplätze ausschlossen, bekamen alle westlichen Militärbezirke, alle Truppenverbände der Luftwaffe vor Beginn der Kriegeshandlungen, erforderliche Befehle, die Truppenteile in höchste Gefechtsbereitschaft zu versetzen.
14. Bereits an den ersten Kriegstagen wurde die Unfähigkeit der sowjetischen Luftwaffe zu einer wirksamen Führung des Luftkrieges offensichtlich. Der riesengroße Flugzeugpark wurde mit dem Wirkungsgrad einer Dampflokomotive eingesetzt –wenige Kampfflüge, fehlende Koordinierung der Handlungen und der Verbindung zu den Bodenstreitkräften, unbefriedigendes Funktionieren des Systems der materiell-technischen Versorgung, die Kraftlosigkeit und Willenlosigkeit der Stäbe. In den Bereichen der Front (Weißrussland, Baltische Staaten), wo die gegnerischen Bodenstreitkräfte den Hauptstoß versetzten, begann eine panische „Umstationierung“ ins Hinterland, die in Wirklichkeit eine Massendesertion war.
15. Die Untätigkeit (in einigen Fällen - Flucht) der sowjetischen Luftwaffe bot den gegnerischen Truppen die Möglichkeit, die Stationierungsorte der Bodenstreitkräfte der Roten Armee ungehindert zu bomben; was zu einem weiteren Grund für den ungeordneten panischen Rückzug wurde, der wiederum die Luftwaffenkommandeure zur Entscheidung über eine eilige „Umstationierung“ noch mehr veranlaßte. Somit entstand blitzschnell das System mit einer „positiven Rückmeldung“, dessen Wirkung letzten Endes zur Folge hatte, dass der wesentliche Teil des Flugzeugsparks der Luftwaffe der Westlichen, Nordwestlichen (in einem geringeren Maße - Südwestlichen) Militärbezirke auf den Flugplätzen liegen gelassen wurde.
16. Angesichts der annähernden zahlenmäßigen Gleichheit mit den sowjetischen Luftstreitkräften bekam die deutsche Luftwaffe den entscheidenden Vorteil durch eine hochwertigere Vorbereitung und den Kampfgeist des Flugpersonals, ausgearbeitete Taktik der Kampfanwendung und Zusammenwirkung mit den Bodenstreitkräften, tadelloses Funktionieren des Fernmelde- und Steuerungssystems. Nur das ständige Aufstocken der Kräfte infolge der Verlagerung der Luftwaffenverbände aus den Innenbezirken und aus dem Fernosten, nur die stetige Aufstellung der neuen Geschwader gab dem Kommando der sowjetischen Luftwaffe die Möglichkeit, Gegenschläge zu versetzen, Mindestluftdeckung für die Bodenstreitkräfte bereitzustellen.
17. Der „Blitzkrieg“ in der Luft scheiterte aus demselben Grund, aus dem der „Blitzkrieg“ auf dem Boden nicht zustande kam: Die Deutschen kamen nicht dazu, immer neue und neue Truppenteile zu überwältigen, steigende Verluste zu ersetzen. Andererseits wurden die Einsätze der sowjetischen Luftwaffe je nach Wiederherstellung der Disziplin, Ordnung und Lenkbarkeit in der sowjetischen Luftwaffe, je nachdem das Flug- und Kommandopersonal Kampferfahrung sammelte, wirksamer. Wahrscheinlich bildete sich bereits zum Herbst 1942 ein vages Kräftegleichgewicht in der Luft. Aber die Ressourcen, die die UdSSR und ihre Luftwaffe für die Aufrechterhaltung dieses Gleichgewichts aufwendeten, überschritten den Aufwand und Verluste des Gegners ums mehrfache. Bis zum Mai 1945 blieb die sowjetische Luftwaffe ein riesengroßes, aber wenig effizientes Kriegsmechanismus.