3.2. Soviel und noch einmal soviel

         Am 17. Juli berichtete der Chef der Verwaltung für politische Propaganda der Süd-Westfront Michajlow:

"... In den Frontteilen kamen viele Fälle der panischen Flucht einzelner Militärpersonen, Gruppen, Einheiten vom Gefechtsfeld sehr oft vor. Panik wurde oft von Drückeberger und Feiglingen in anderen Teilen verbreitet, wodurch übergeordnete Stäbe von der wirklichen Sachlage an der Front, vom Kampfbestand und zahlenmäßigen Bestand und von eigenen Verlusten falsche Informationen bekamen.  
         Die Zahl der Fahnenflüchtigen ist äußerst groß. Nur im 6. Schützenkorps wurden in den ersten 10 Kriegstagen 5000 Fahnenflüchtige festgenommen und an die Front zurückgeschickt… 
         Nach unvollständigen Angaben wurden von den Sperrverbänden im Laufe des Krieges 54 000 Personen festgenommen, die ihre Teile verloren hatten, 1300 davon gehörten zum Führerpersonal…  "
 ( 68 )
        
Und das ist nur „ nach unvollständigen Angaben“  und das sind nur die, die in der Situation des allgemeinen Zerfalls der Südwestfront im Laufe von 3 Wochen festgenommen werden konnten…

          Über die Anzahl der nicht festgenommenen Fahnenflüchtigen kann man danach urteilen, daß die Verluste an der Südwestfront nach Angaben des Sammelbandes „Geheimhaltungsvermerk gelöscht“ vom 22. Juni bis zum 6. Juli betrugen:

-  65.755 Verwundete und Kranke

- 165.452 Gefallene UND Vermisste

        Mit Hilfe der Konjunktion „UND“ haben die Verfasser des Sammelbandes die Anzahl der Fahnenflüchtige der Gesamtzahl der unwiederbringlichen Verluste leicht zugeordnet, aber angesichts des für alle bewaffneten Konflikte des 20. Jahrhunderts stabilen 3:1-Verhältnisses zwischen den Verwundeten und Gefallenen kann man vermuten, dass ungefähr 140 Tausend Menschen (zehn Divisionen!) geflüchtet oder in Gefangenschaft gegangen sind. Und das allein an einer Front und nur im Laufe der ersten 2 Kriegswochen. Derselben Wochen, innerhalb derer mechanisierte Korps der Südwestfront eine totale Niederlage erlitten (darum handelte es sich im Teil 2 unseres Buches). 

         Diejenigen, die festgenommen und irgendwie in die Truppen wieder geschickt wurden,  betrugen nur einen Teil (wie es später gezeigt wird – einen kleinen Teil) aller „Fahnenflüchtigen“. Die Anführungszeichen stehen hier nicht zufällig. Die in der Roten Armee im Sommer 1941 entstandene Situation war so, daß die Verwendung der allgemeingültigen Begriffe für ihre Beschreibung äußerst schwerfällt.

        "Das Typenschema" der Zerschlagung und des Verschwindens eines Truppenteils der Roten Armee (wie es aus vielen Erinnerungen, Büchern, Dokumenten ersichtlich ist) sah wie folgt aus:

         Punkt eins. Verlust des Kommandeurs. Die Gründe konnten verschieden sein: gefallen, verwundet, weggefahren, um sich über die Sachlage im übergeordneten Stab zu informieren, sich erschossen, einfach geflüchtet. In Bezug auf die Truppenteile, die in den westlichen „befreiten“ Regionen der UdSSR aufgestellt wurden, kann man diese Liste um „getötet von Untergeordneten“ hinzufügen. Der Verlust des Kommandeurs war der häufigste, aber nicht die einzige Anregung zur schnellen Auflösung des Truppenteils. Als solch eine Anregung konnte auch der reelle Durchbruch der feindlichen Panzer in die Flanke und ins Hinterland und das Schießen mit Maschinenpistolen, das von einer kleinen Gruppe der deutschen Motorradfahrer vollzogen wurde oder jemandes lauter Schrei: "Eingekesselt!" dienen.

         Punkt zwei. Die Unterführer, die die Führung des enthaupteten Truppenteils übernahmen, trafen die Entscheidung, „nach dem Osten auszubrechen“. Die rettende Einfachheit dieser Entscheidung ist täuschend. Vom motorisierten Feind zu Fuß wegzulaufen, ist unmöglich, und Fahrzeuge und Treibstoff gehen in einem ohne Verbindung und Versorgung gebliebenen Truppenteil sehr schnell aus. Die aus den Feldbefestigungen ausgebrochenen Truppenteile, die einen Großteil der Schwerbewaffnung liegen gelassen haben, verwandeln sich in eine schutzlose Zielscheibe für die feindliche Luftwaffe und Artillerie. Letztendlich demoralisieren die Umstände des Rückzugs selbst, die Empfindung seiner Schwäche vor dem Gegner die Truppen sehr stark. 

         Punkt drei. Nach ein paar misslungenen Ausbruchversuchen beschließen die Übriggebliebenen,  „sich in kleineren Gruppen zurückzuziehen“". Alles. Das ist das Ende. In ein paar Tagen (oder Stunden) ist das ehemalige Bataillon (Regiment, die ehemalige Division) zu Brei zermalmt.

         Punkt vier. Eine riesige Zahl einsamer  „Wanderer“, ging in Dörfer, zu Menschen, nachdem sie sinnlos und ohne Verpflegung durch Wälder und Felder gewandert waren. Und in den Dörfern gibt es Deutsche. Weiter haben sie sehr wenig Varianten: eine mitleidige Witwe, Gefangenenlager, Polizeidienst. Und alles.

         Mit welchem Wort können wir solche Menschen nennen? Fahnenflüchtige, Hochverräter, die ihren Truppenteile verloren haben, verschollen sind, sich in die Gefangenschaft begeben haben, gefangengenommen worden sind? Mit welchen Waagen, mit welchem Lineal kann man messen, was in diesem Schema überwiegt: "konnten nicht kämpfen" oder "wollten nicht kämpfen"? Und kann man diese Kategorien überhaupt voneinander abgrenzen – Können und Wunsch, Qualifikation und Motivation – bei einer „Tätigkeit“, wie Krieg, wo der Mensch jede Sekunde den für alle Lebewesen wichtigsten Selbsterhaltungstrieb überwinden muß?

         Wir haben keine Ansprüche darauf, Gerichtsbehörden zu ersetzen oder persönliche Bewertungen zu geben, und wollen versuchen, mindestens den Maßstab dieser Erscheinung selbst ungefähr zu schätzen.

         Zur chronologisch ersten (und vielleicht der meist verbreiteten) Art der Fahnenflucht wurde das Entziehen von der Mobilmachungseinberufung in den ersten Kriegstagen und Wochen. Für die Leser, die in der Nachkriegs-UdSSR geboren und unendliche Erzählungen über unzählige Schüler der Oberstufe gehört haben, die Wehrersatzstellen belagerten, wird die gleichartige Formulierung als eine böswillige Verleumdung klingen. Aber schon 1992 nannten offizielle Militärhistoriker, Verfasser der Monographie „das Jahr 1941: Lehren und Schlußfolgerungen“ folgende Zahlen:

         "Im vom Feind vorübergehend besetzten Gebiet wurden 5 631 600 Menschen aus dem Mobilmachungsbestand der UdSSR gelassen… im Baltischen Sondermilitärbezirk betrugen diese Verluste 810 844, im westlichen Sondermilitärbezirk - 889 112, im Kiewer Sondermilitärbezirk - 1 625 174 und im Odessaer Militärbezirk - 813 412 Menschen..." (3, S.114)

         Selbstverständlich sollte man nicht jeder dieser 5,6 Millionen Fälle des Nichterscheinens der Wehrpflichtigen in die Einberufungsstelle als absichtliche Nichterfüllung der Einberufung auffassen. Sehr oft verschwand die Wehrersatzstelle früher, als Wehrpflichtige kamen. Aber es lohnt sich nicht, die Bedeutung des schnellen Vordringens der Wehrmacht zu übertreiben, und um so mehr - es für als Hauptschuldige für die millionenhohen Verluste des Einberufungskontingents abzustempeln.

          Geographie und Arithmetik sind in dieser Angelegenheit äußerst einfach. Der Westliche Sondermilitärbezirk umfasste ganz Weißrussland und das ganze Smolensker Gebiet der RSFSR. Deutsche besetzten den Großteil dieses Gebietes erst Ende Juli 1941. Der Kiewer Sondermilitärbezirk ist die ganze Rechtsuferukraine und ein Teil am Linken Ufer in den Grenzen des Kiewer Gebiets. Die Deutschen erschienen am Dnjepr erst im September. Der Odessaer Sondermilitärbezirk umfasst nicht nur das Odessaer Gebiet, sondern auch das Nikolaewer, Chersoner, Dnjepropetrowsker, Zaporosher Gebiet der Ukraine, Moldawien und die Krim. Die Besetzung dieser riesigen Räume am Schwarzen und Asowschen Meer wurde im späten Herbst 1941 beendet.

         Sollten ein paar Monate für die Einberufung der Wehrpflichtigen nicht ausreichend gewesen sein, für die man nach dem Mobilmachungsplan nur einige Tage anberaumt waren, so wird die Verwendung des Begriffes „Entziehen von der Einberufung“ ganz angebracht und gerechtfertigt sein. Es lohnt sich nicht, zu vergessen, dass bei weitem nicht alle, die sich bei der Wehrersatzstelle nicht eingefunden haben, später in die Armee kamen. In der Ostukraine, in der überwiegend Russen lebten, (das heutige Charkower Gebiet) wurde dieses „bei weitem nicht alle“ in folgenden Zahlen ausgedrückt: Bis Ende Oktober 1941 betrug die Anteil der Fahnenflüchtigen an den Neueingezogenen 30 % in der Wehrersatzstelle Tschuguewo, 35 % - in der Stalinschen Wehrersatzstelle, 45 % - in der Wehrersatzstelle Isjum. Und das ist die Ostukraine. Nach Angaben der modernen ukrainischen Historiker blieb die absolute Mehrheit der Mobilisierten in der Westukraine in dem von den Deutschen besetzten Gebiet.

         Was die Fahnenflucht unmittelbar aus den Truppenteilen betrifft, so wurden 1941 von den NKWD-Behörden, die für die rückwärtigen Gebiete der Armee zuständig waren, 638 Tausend Menschen festgenommen, die der Fahnenflucht verdächtigt wurden. Insgesamt wurden im Laufe des ganzen Krieges wegen Fahnenflucht (nach Angaben desselben Sammelbandes "Geheimhaltungsvermerk gelöscht“ ) 376 Tausend Militärs verurteilt. (35, S.140)  Weitere 940  Tausend wurden „zum zweiten Mal eingezogen“. (35, S.338) Mit diesem komischen Begriff wurden die Soldaten und Kommandeure der Roten Armee bezeichnet, die aus verschiedenen Gründen ihren Truppenteil „verloren hatten“ und im von Deutschen besetzten Gebiet blieben, und 1943-1944 wurden sie eingezogen. Dabei fanden sich unter ihnen nicht nur Kolchosbauern mit Soldatenwickelgamaschen, sondern auch zwei Generäle: Der Oberbefehlshaber der Artillerie der 24. Armee Moschenin und der Kommandeur der 189. Schützendivision Tschitschkanow. Dabei muss man nicht vergessen, dass die ursprüngliche Anahl der „Verlorenen“ bedeutend höher war – nicht jeder konnte diese 2-3 Jahre Elend, Hunger, Beschießungen, Erschießungen, Razzien und Bombardierungen überleben…

         Auf Seite 140 des Sammelbandes „Geheimhaltungsvermerk gelöscht“ weicht die Gesamtzahl aller Kategorien des kampfunfähigen Personals: Gefallene, Gestorbene, Vermisste, Gefangengenommene, verurteilte und in GULAG geschickte (und nicht in die Strafbataillone, die auch ein Teil der Armee waren), wegen der Verwundung und Krankheit entlassene und „andere“ – von der auf der vorigen Seite angegebenen Gesamtzahl der „aus verschiedenen Gründen aus der Streitkräften Ausgeschiedenen“ um  2.343.000 Menschen ab. Die Verfasser selbst erklären diese Nichtübereinstimmung durch „eine hohe Anzahl der nicht gefundenen Fahnenflüchtigen“.

          Um die Flut der Flüchtigen zu stoppen, verwendete die Stalinsche Führung das einzige ihr bekannte und zugängliche Mittel – Massenerschießungen. Nur innerhalb von weniger, als 4 Kriegsmonaten (vom 22. Juni bis zum 10. Oktober 1941) wurden durch Urteile der Militärgerichte und Sonderabteilungen des NKWD 10.201 Militärs erschossen. Insgesamt wurden im Laufe des Krieges nur von Militärgerichte über 994 Tausend sowjetische Militärpersonen verurteilt, 157.593 Menschen davon wurden erschossen. (118, S.139)  ZEHN DIVISIONEN wurden erschossen!

   

  …  Das, was im Sommer und Herbst 1941 mit der Roten Armee passierte, sprengt alle Rahmen der gewöhnlichen Vorstellungen. Die Kriegsgeschichte kannte so was nicht. Schlagen wir noch einmal das statistische Sammelband „Geheimhaltungsvermerk gelöscht“ auf, diesmal auf Seiten 234 -246. Dort sind die Angaben über die Verluste der bestehenden Fronten im Jahre 1941 angeführt. Die Einzigartigkeit der angegebenen Seiten besteht darin, dass die Mengen (ich bitte Sie, sehr geehrte LeserInnen, für einen Augenblick zu vergessen, welche Tragödie hinter diesen Ziffern steht, man muss sich nur auf die einfache und klare Arithmetik konzentrieren) der Gefallenen und Vermissten nicht in einem einheitlichen Bestand mit Hilfe der schlauen Konjunktion „UND“ zusammengefaßt, sondern vereinzelt angegeben sind.  Für eine bessere Anschaulichkeit fassen wir die vorhandenen Informationen in der folgenden Tabelle zusammen:

 

 

Gesamtverluste,

Tausende Menschen  / %%

Gefallene,

 %%

Sanitäre Verluste, %%

Vermisste, Verluste nicht durch Kämpfe und andere. %%

Nordfront

    148  /   100

     15,1

      42,4

           42,6

Nordwestfront

    270  /   100

     11,7

      32,5

           55,8

Westfront

 1.298  /   100

       8,2

      26,3

           65,4

Südwestfront

    852  /   100

       7,1

      15,7

           77,2

Südfront

    312  /   100

     10,4

      23,6

           66,0

Zentralfront

    143  /   100

       6,4

      22,4

           71,2

Brjansker Front

    198  /   100

       7,2

      21,5

           71,3

 

         Wie wir sehen, mit Ausnahme der weiten Nordflanke des Krieges (der Nordfront), überstieg die Anzahl der Vermissten die der Gefallenen ums 5-10fache. Oder mit anderen Worten, sind gerade die Massengefangenschaft und -fahnenflucht der wichtigste Bestandteil der unwiederbringlichen Verluste der Roten Armee 1941. Die Situation an der Nordfront fällt unter die Definition „Ausnahme, die die Regel bestätigt“. Weder die Geländeverhältnisse, noch die Bewaffnung der bettelarmen finnischen Armee gaben ihr die Möglichkeit, große Operationen zwecks Einschließung des Feindes durchzuführen. Die Kampfhandlungen waren wie ein langsames „Abdrängen“ der Einheiten der Roten Armee hinter die Linie der Grenze des Jahres 1939. Aber sogar bei diesem „Abdrängen“ nahmen Finnen 64.188 sowjetische Soldaten gefangen. (32)

         Die oben angegebenen Zahlen sind beachtlich reduziert. Die Wirklichkeit war noch schrecklicher und beschämender. Die Sache ist die, daß laut dem Sammelband „Geheimhaltungsvermerk gelöscht“ die Gesamtzahl der Vermissten an allen Fronten 1941 angeblich „nur “ 2.335 Tausend Menschen ( 35, S.146 ) betrug, während den Berichten des Oberkommandos der Wehrmacht zufolge die Anzahl allein der Gefangenen (ohne Rücksicht auf Fahnenflüchtlige, deren Anzahl die Deutschen nicht wissen konnten) 3.886 Tausend Menschen betrug (darunter 113 Tausend im Juni und 2.369 Tausend im zweiten Quartal 1941).

        Feindliche Kriegspropaganda?  Wer weiß, aber die Deutschen waren in dieser Angelegenheit sehr sorgfältig und zurückhaltend. So gab Hitler beim Auftritt im Reichstag am 11.Dezember 1941 bekannt, daß die Rote Armee 21 Tausend Panzer, 17 Tausend Flugzeuge, 33 Tausend Geschütze und  3.806.865 Kriegsgefangene verloren hatte. (115)  Daraus ist ersichtlich, dass die Militärtechnikverluste im Großen und Ganzen die offiziellen Angaben der modernen russischen Kriegsgeschichte nicht überschreiten, und die Geschützverluste sind auch reduziert angegeben! Eine ähnliche Anzahl - 3,6 Mio. Gefangene, die am Ende Februar 1942 am Leben blieben -  wird auch im Briefwechsel zwischen Keitel und Rosenberg genannt, im geheimen Briefwechsel, der für die Propagandazwecke gar nicht bestimmt war.  (74)

        Schon bis Ende Juli 1941 überstieg die Flut der Kriegsgefangenen die Möglichkeiten der Wehrmacht, sie zu bewachen und zu unterhalten. Am 25 Juli 1941 wurde vom Generalquartiermeister der Befehl Nr. 11\4590 erlassen, laut dem die Massenbefreiung einer Reihe von Nationalitäten (Ukrainer, Weißrussen, Einwohner der Baltischen Staaten) begann. Während der Gültigkeitsdauer dieses Befehls, d.h. bis zum 13. November 1941,  wurden 318.770 ehemalige Rotarmisten (überwiegend Ukrainer - 277.761 Menschen) nach Hause geschickt. (35, S.334)

          Und die sowjetische Regierung hielt es für notwendig, auf dieses unerhörte Benehmen ihrer Staatsbürger irgendwie zu reagieren. Am 16. August wurde der berühmte Befehl der STAWKA Nr. 270 „Über die Fälle der Feigheit und Gefangennahme und Maßnahmen zur Verhinderung dieser Handlungen“ erlassen.  Für eine größere Überzeugung wurde der Befehl Nr. 270 von Stalin, Molotow, Budennij, Woroschilow, Timoschenko, Schaposchnikow und Zhukow gegengezeichnet. in der Kriegsgeschichte der zivilisierten Länder kann man kaum ein vergleichbares Dokument finden:

        " Hiermit befehle ich wie folgt:

1. Kommandeure und Politkommissare, die während des Gefechtes von sich die Dienstabzeichen abreißen und ins Hinterland flüchten oder sich in die Gefangenschaft begeben, für böswillige Fahnenflüchtige zu halten, und ihre Familien als Familien eines Menschen, der den Eid gebrochen und seine Heimat verraten hat, zu verhaften. Alle übergeordneten Kommandeure und Kommissare zu verpflichten, solche Fahnenflüchtige aus dem Führerpersonal auf Ort und Stelle zu erschießen.

2. Die in die feindliche Einkesselung geratenen Truppenteile und Einheiten müssen bis zur letzten Möglichkeit aufopfernungsvoll kämpfen, Kriegsgerät hüten, zu ihren Truppen durchs feindliche Hinterland ausbrechen, und sie den faschistischen Hunden dabei eine Niederlage beibringen.

         Jeden Militär zu verpflichten, unabhängig von seiner Dienststellung, wenn sein Truppenteil eingekesselt ist, vom übergeordneten Vorgesetzen zu verlangen, bis zur letzten Möglichkeit zu kämpfen, um zu ihren Truppen auszubrechen, und wenn dieser Vorgesetzte oder ein Teil der Rotarmisten sich in die Gefangenschaft begeben wollen, statt eine Abwehr gegen den Feind  zu organisieren, - sie mit allen Mitteln (sowohl am Boden, als auch aus der Luft) zu vernichten und für die Familien der in die Gefangenschaft gegangenen Rotarmisten die staatliche Fürsorge und Hilfe zu streichen…

        Der ist Befehl in allen Kompanien, Schwadronen, Batterien, Staffeln, Kommandos und Stäben vorzu lesen". (6, Seite 479)

        Die für das Verständnis der Denkweise des Genossen Stalin äußerst wichtige Tatsache besteht darin, daß er in diesem neuen grundlegenden Befehl für unmöglich oder sogar für unnötig hielt, hohe Motive, wie „Schutz der Oktobereroberungen“, „Rettung der Menschheit vor den faschistischen Barbaren“ zu erwähnen. Er sprach nicht von Dmitrij Donskoj, nicht von Alexander Newski, nicht von der tausendjährigen Geschichte Russlands. Die Militärs der Roten Armee wurden einfach und ohne Umschweife daran erinnnert, dass ihre Familien – wenn sie sich im vom NKWD/der kommunistischen Partei kontrollierten Gebiet befinden – Geisel ihres Benehmens an der Front sind

 

        …Leider ist es sogar mit solchen Maßnahmen nicht gelungen, die in seiner Zeit von Woroschilow besungene „Liebe der sowjetischen Menschen zum Krieg“ wachzurufen.  Die Rotarmisten ließen weiterhin ihre Geschütze liegen und zerstreuten sich haufenweise in Wäldern. Es ist noch kein Monat nach Erscheinen des Befehls Nr 270 vergangen, und schon am 12. September wurde eine Weisung der Stawka Nr. 001919 über die Aufstellung der Sperrtruppen angenommen, deren Stärke nicht weniger als eine Kompanie pro Schützenregiment betrug. In den ersten Zeilen dieser Weisung stand wörtlich Folgendes:

         "Die Kampferfahrungen mit dem deutschen Faschismus zeigten, dass es in unseren Schützendivisionen viele panische und sogar feindliche Elemente gibt, die beim ersten Druck des Gegners (von mir unterstrichen -  M.S.) ihre Waffen liegen lassen und zu schreien beginnen: "wir sind eingekesselt" und verleiten auf diese Weise übrige Soldaten dazu. Im Endeffekt flüchtet die Division, läßt Kriegsgerät liegen und beginnt dann, aus den Wäldern vereinzelt auszubrechen. Änhliche Fälle kommen an allen Fronten vor… " (5, S. 180) 

        Zum Zeitpunkt des Erscheinens dieser Weisung waren schon mehr als anderthalb Millionen Soldaten und Kommandeure der Roten Armee in deutscher Gefangenschaft (1.493 Tausend zum Stand am Ende August). Zwei Tage später nach der Erlassung der Weisung der Stawka Nr. 001919, am 14. September 1941 schlossen die Einsatztruppen der 1. und 2. Panzergruppen der Wehrmacht den Ring um den riesigen „Kiewer Kessel“. Eine riesige eine halbe Million starke Gruppierung der sowjetischen Truppen stellte den organisierten Widerstand weniger als in einer Woche ein. Das Oberkommando der Wehrmacht berichtete dann über die Gefangennahme von  665 Tausend Gefangenen, 3718 Geschützen und 884 Panzern. 

         Der Oktober 1941 begann mit der Einkesselung der Hauptkräfte der West-, Reserve- und Brjansker Front (67 Schützen- und 6 Kavalleriedivisionen, 13 Panzerbrigaden) in 2 riesigen „Kesseln“ bei Wjasma und Brjansk. Das Oberkommando der Wehrmacht meldete 658 Tausend Menschen gefangen genommen, 5396 Geschütze und 1241 Panzer erbeutet. Die Oktoberkatastrophe (die man keinesfalls durch „den Überraschungsangriff“ oder die berüchtigte „fehlende Mobilmachung der Armee“ rechtfertigen konnte) überstieg  ihrem Ausmaß nach die Zerschlagung der Westfront im Juni 1941 beachtlich. Und noch ein qualitativer Unterschied zwischen dem „Kessel bei Wjasma“ und bei Minsk bestand darin, daß eine Menge Generäle des höchsten Ranges in die deutsche Gefangenschaft gerieten.  Darunter: Oberbefehlshaber der 19. Armee Lukin, Oberbefehlshaber der 20. Armee Erschakow, Mitglied des Militärrates der 32. Armee Zhilenkow, Oberbefehlshaber der 32. Armee Wischnewskij, Stabschef der 19. Armee Malischkin, Kommandeur der Artillerie der 24. Armee Moschenin, Kommandeur der Artillerie der 20. Armee Prochorow… 

 

        …Indem wir auf die Ereignisse im Jahre 1941 zurückkommen und keinen Anspruch auf die absolute Genauigkeit der Zahlen haben (die Natur der Erscheinungen, wie Fahnenflucht und Gefangennahme schließt einer genaue, namentliche Registrierung aus), versuchen wir, die Gesamtzahl der Gefangenen und Fahnenflüchtigen einzuschätzen.

         Am 1. Mai 1942 unterschrieb der Chef der Organisations- und Berechnungsabteilung der operativen Verwaltung des Generalstabs der Roten Armee Oberst Efremow die Bescheinigung „Über die Stärke der Roten Armee, Ergänzungen und Verluste im Zeitraum vom Kriegsanfang bis zum 1. März 1942 “(veröffentlicht mit dem Verweis auf das Zentrale Archiv des Verteidigungsministeriums, 14, G.. 113, D.1, L. 228-238 im Buch von S.N. Michalew, „personelle Verluste in Großen Vaterländischen Krieg 1941-1945. Statistische Untersuchungen“. Krasnojarsk, ROI KGGU, 2000). In diesem wichtigen Dokument sind viele Zahlen angegeben (manche von denen werden wir unten besprechen), und er endet mit folgenden zwei Sätzen:

"Die Gesamtstärke der Roten Armee soll unter Berücksichtigung der Verluste  14.197.000 Personen betragen.

In der Tat zählt die Rote Armee nach Angaben der Organisations- und Personalverwaltung am 1. Mai 9.315.000 Personen".

        Punkt. Datum. Unterschrift. Keine Kommentare zur  ungefähr 5 Mio. verschollenen Militärs (4.882 Tausend, um genau zu sein) gibt der Oberst Efremow. Was die ursprüngliche Anzahl von 14.197 Tausend Personen betrifft, so wurde sie mittels „Bilanzverfahren“ (im Prinzip ist sie jedem Schüler als Beispiel mit der Lösung einer Aufgabe über das Schwimmbad bekannt, in dem durch ein Rohr Wasser ein-, aus dem anderen – ausfließt) ermittelt, und zwar:

- zur Stärke der Roten Armee am Kriegsbeginn (die Efremow als 4.924 Tausend Personen bestimmt)

- zählt man die Gesamtzahl der Mobilisierten dazu (12.490 Tausend, darunter 11.790 Tausend bis Ende 1941 Einberufene)

– und davon werden unwiederbringliche Verluste (3.217 Tausend Menschen) abgezogen.

        Wir stellen sofort fest, dass die Anzahl der Mobilisierten im Jahre 1941, die im Bericht von Efremow angeführt ist, beachtlich (um 2,2 Mio. Personen) kleiner als die Zahl ist, die die Verfasser der Monographie „1941 – Lehren und Schlußfolgerungen“ nannten. Nach ihrer Berechnung wurden bis Ende 1941 14 Mio. Menschen mobilisiert. (3, S. 110)

        Unwiederbringliche Verluste sind die Gefallenen, die Personen in Spitälern wegen der Verwundung gestorben sind, die aus der Armee wegen der Verwundung Entlassenen. Und die „Vermißten“. Weder eine genaue, noch sogar eine vorläufige Verteilung der unwiederbringlichen Verluste auf diese Kategorien wird im Bericht von Efremow erwähnt,  aber es gibt einen sehr aufschlußreichen Satz: "Die Gesamtzahl der Verwundeten und der Personen, die eine Prellung bekommen haben, der Erfrorenen und Erkrankten (seit Kriegsbeginn) beträgt 1.665.000, die Anzahl der in die Armee Zurückgeschickten Personen beträgt nach Angaben der Sanitätsverwaltung ungefähr 1.000.000."
         Gerade die Informationen über die Anzahl der Verwundeten, die in Spitäler zur Behandlung eingeliefert wurden, sind (der Meinung des Autors nach) die glaubwürdigsten. Im tiefen Hinterland gab es mehr Ordnung, und auch gab es die doppelte Erfassung (sowohl bei der Einlieferung als auch bei der Entlassung). Wenn wir von einem für alle Kriege des 20. Jahrhunderts sehr stabilen 3 zu 1 Verhältnis zwischen den Verletzten und Toten sprechen, kann man vermuten, dass den 1.665 Tausend Verwundeten ungefähr 555 Tausend Tote entsprechen. Es ist hervorzuheben, dass diese durchaus rechnerische Bewertung mit der im Sammelband von Kriwoscheew („Geheimhaltungsvermerk gelöscht“) angeführten Zahl der Toten vergleichbar ist – nach den Berichten der Stäbe der Teile und Einheiten der bestehenden Armee zum Stand am 1. März 1942 beträgt die Zahl der Gefallenen (die an der Verwundung in Spitälern Gestorbenen nicht mit eingerechnet) 741 Tausend Personen (Verluste im Januar-Februar 1942 wurden als 2/3 Verluste des Vierteljahrs 1942 berechnet) (35,S.146 )

        Eine Million der Verwundeten ist in die Armee zurückgekehrt, 665 Tausend Militärs wurden unwiederbringlich „verloren“ (an der Verwundung gestorben oder wegen Verwundung entlassen). Auf solche Weise haben "die Vermissten" an der Gesamtmenge der BERECHNETEN (unterstreichen wir dieses Wort mit drei fetten Linien) unwiederbringlichen Verluste einen Anteil von fast zwei Millionen Menschen:

        3.217 - 555 - 665 = 1.997

        Wenn wir die Zahl der Gefallenen nach dem statistischen Sammelband von Kriwoscheew ermitteln, kommen wir auf 1.811 Tausend.

        Und noch 4.882 Tausend Militärs, die in den Berichten der Stäbe ohne jegliche Spur verschwanden. Insgesamt – über 6,5 Mio. Personen, die (irgendwohin verschwunden sind).

         Aber was bedeutet „irgendwohin verschwunden“? Kein Wunder, alles ist ganz klar:

- 3,8 Mio. Personen wurde von den Deutschen gefangengenommen

- nicht weniger als 1,0 - 1,5 Mio. "haben ihren Truppenteil verloren“ entzogen sich sowohl der Front als auch der Gefangenschaft

- die rechnerische Differenz von 1,0 - 1,5 Mio. Personen sind Verwundete, bei panischer Flucht Hinterlassene und die Gefallenen, die in den Frontberichten nicht erwähnt wurden.

         Wieder schlagen wir den Sammelband „Geheimhaltungsvermerk gelöscht“ auf und lesen auf Seite 152, dass die monatsdurchschnittliche Stärke der bestehenden Armee am Kriegsbeginn 3.334 Tausend Personen betrug. In vielen anderen Werken wird (mit einer klaren Absicht, „die zahlenmäßige Überlegenheit des Gegners“ zu schildern) eine noch geringere Personalstärke der Truppen der Westbezirke zum Stand am 22. Juni 1941 angegeben.  Aber wenn wir als Basis eine Zahl von 3,3 Mio. nehmen, so bekommen wir, dass die Anzahl der Gefangenen und Fahnenflüchtigen 1941 fast zweimal die ursprüngliche Personalstärke der bestehenden Armee überschritt.

Und am wunderbarsten ist, dass  die sowjetischen „Historiker“ diese schrecklichen Tatsachen nie für einen der Gründe (wenn auch für den am wenigsten bedeutenden Grund) für das hielten, was sie verhüllend „vorübergehende Mißerfolge der Roten Armee“ nannten. 

        Schlechte Ölfilter in Panzerdieselmotoren ist ein wichtiger Grund für die Niederlage, davon wird viel geschrieben; und in Schießscharten der Kampfstände des Kiewer befestigten Bezirkes standen veraltete Maschinengewehrklappen – und darüber sind Haufen Papier vollgeschrieben … Und Artilleriezugmaschinen fuhren zu langsam (schleppten langsamer dahin, als der Gegner angriff), und Funkgeräte gab es nicht in allen Panzerzügen…Das alles sind wichtige Themen für langjährige Diskussionen.  Und die Tatsache, daß Millionen Soldaten der Roten Armee die Geschütze liegen lassen haben und sich in Wälder zerstreuten, riesige Berge der liegen gelassenen Panzer, Kanonen und Panzermaschinen, 6,3 Mio.  „verlorene“ Schusswaffen, sind Kleinigkeiten, das stammt aus einem anderen Regal, es hat mit der wissenschaftlichen Historiographie des Krieges nichts zu tun...

 

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