3.7. Wann begann der große Vaterländische Krieg?

         Die Rettung kam, woher Stalin sie nicht einmal erwarten konnte. Diese wunderbare Erlösung vom unvermeidlichen Untergang erschütterte den Volksführer so stark, dass er es sich nicht verkneifen konnte und dies lauthals verkündete. Dann kam er aber schnell zu sich und sagte SO WAS laut nicht mehr. Aber im November 1941, als Stalin einen Vortrag auf einer feierlichen Versammlung hielt, die dem kommenden Jahrestag des bolschewistischen Umsturzes gewidmet war, sagte er plötzlich die Wahrheit: "Die dumme Politik von Hitler machte die Völker der UdSSR zu Erzfeinden des heutigen Deutschland". ( 172 )  In diesen Worten wurde kurz und bündig der Hauptgrund dafür formuliert, warum sich die Schlägerei um die Verteilung der Räuberbeute zwischen zwei blutigen Diktaturen endlich in den Großen Vaterländischen Krieg des sowjetischen Volkes verwandelte.

          Hitler beging eine lange Reihe bodenloser Dummheiten am laufenden Band, während der Sieg über das Stalinsche Reich ihm praktisch in die Hände fiel. Der allererste Fehler war die strategische Ausrichtung auf rein militärische Zerschlagung des Gegners selbst. Anderthalb Hunderte deutscher Divisionen konnten das Land nicht besetzen, das sich von Brest bis Wladiwostok und von Murmansk bis Aschhabad erstreckte. Wenn die Sowjetunion hätte zerstört werden können, so nur durch einen Ausbruch von innen (was in Wirklichkeit genau 50 Jahre später geschah) und der einzige Sinn der Kriegsoperation hätte nur die Auslösung solch eines Ausbruchs sein können. Aber Hitler, dieser eitle grausame Halsabschneider, der sich eingebildet hat, das Werkzeug der „Providenz“ zu sein, konnte (oder wollte) solch eine offenbare Wahrheit nicht wahrhaben. Und nichtsdestotrotz lief der Prozess der internen Desintegration des sowjetischen Staates unabhängig von den ursprünglichen Plänen der Hitlerschen Führung in einem immer steigenden Tempo.

          In nationalen Außenbezirken der UdSSR (Baltikum, die Westukraine und später der Nordkaukasus und Kuban) begann ein bewaffneter Aufstand, der zur Entstehung der Regierungen von selbst erklärten „Staaten“ in Lwow, Riga und Kaunas führte. Der Großteil der Bevölkerung der Zentralbezirke des Landes empfing die Deutschen zwar ohne Blumen, jedoch mit einem gemischten Gefühl von Misstrauen und Erwartung. Schon zum Herbstbeginn gab es in der deutschen Gefangenschaft anderthalb Millionen ehemalige Militärs der Roten Armee, im Laufe von September-Oktober 1941 wurde diese Zahl mehr verdoppelt. In der Tat war es ein riesiges „Einberufungskontingent“, mit Führerpersonal, mit Militärfachleuten aller Arten, und mit Riesenhaufen Munition und Waffe – von  Gewehren bis einschließlich Panzern KV – die gar nicht spurlos verschwanden, sondern in Unmengen im von der Wehrmacht kontrollierten Gebiet zurückgelassen wurden. 

          Generäle der Wehrmacht, die die Situation in der Roten Armee und Kriegsgefangenenlagern aus der Nähe betrachten konnten, wandten sich mehrmals an Hitler mit dem Vorschlag, die einzigartige Situation zwecks des schnellsten Ausschlusses der UdSSR aus dem Krieg auszunutzen. Ganz realistisch erschien die Möglichkeit, die Erfahrung der Jahre 1917-1918 zu wiederholen, als Deutschland, indem es den Machtwechsel in Russland unterstützte, mit der neuen Regierung den Brester Separatfrieden schloss und sich somit einen Spielraum für den Angriff an der Westfront verschaffte.  Die Formel von Taras Bulba ("ich habe dich geboren, ich werde dich töten") hätte von den Deutschen auf das bolschewistische Regime in Russland ganz gut angewendet werden können.

          Auf den Ruinen der Sowjetunion hätten mehrere mit Hitlerdeutschland verbündeten „unabhängigen Staaten“ (wie die Slowakei oder Kroatien) gebildet werden können, die die Wehrmacht mit Lebensmitteln, Rohstoffen für die Rüstungsindustrie, militärischen Hilfsaufstellungen versorgt hätten. Aber Hitler, in dessen krankem Gehirn der rassistische Unsinn bezüglich der „Minderwertigkeit der Slawen“ sich mit der Angst vor dem Ostgiganten vermischte, antwortete, dass er einen Bund mit slawischen „Untermenschen“ nicht braucht und dass von der Wehrmacht nur verlangt wird, die Rote Armee einfach und schnell zu zerschlagen. Danach hörte er auf, überhaupt zu antworten. Als der Befehlshaber der Heeresgruppe „Mitte“ General- Feldmarschall von Bock nach Berlin den Entwurf der Aufstellung „einer Befreiungsarmee“ aus 200 Tausend Freiwilligen und der Bildung der russischen Regierung in Smolensk sendete, so wurde sein Vortrag im November 1941 mit dem Vermerk von Keitel zurückgegeben: "Solche Ideen können mit dem Führer nicht besprochen werden".

         Für die voreingenommensten und unaufmerksamsten Leser erkläre ich:  Alles Vorstehende ist keine Erzählung darüber, "wie gut es hätte sein können". Das sind traurige Gedanken darüber, dass alles noch schlechter hätte sein können, als es in Wirklichkeit war, aber es scheint uns, dass es schlechter nicht mehr geht. Im Feuer des Weltkrieges gab es keine Furt, und die Niederlage von Stalin könnte nur eine kolossale Verstärkung der Stellungen von Hitler bedeuten, in dessen Hand gigantische Rohstoffressourcen des reichsten Landes der Welt, und noch dazu Millionen gehorsame, an Alles gewohnte Arbeiter hätten fallen können. Das Regime, das im von der Macht des NKWD/der kommunistischen Partei „befreiten“ Gebiet hätte eingeführt werden können, hätte sich höchstwahrscheinlich vom Stalinschen Regime nur durch die Farbe der Fahnen und Aufschriften an den Türen der Zimmer von Vorgesetzten unterscheiden. Übrigens ist es nicht ausgeschlossen, dass die Namen der Besitzer vieler Zimmer dieselben hätten bleiben können …

         Zum Glück der ganzen Menschheit verpasste Hitler diese einzigartige Chance, die ihm die jahrelange bolschewistische Herrschaft in Russland bot. Er versuchte nicht einmal, „die Pille zu versüßen“ und seine Aggression gegen die UdSSR als „Befreiungsfeldzug“ hinzustellen. Gefangene Rotarmisten, von denen der sowjetische Staat sich lossagte, wurde wie Vieh auf riesige mit Stacheldraht eingegrenzten Waldwiesen zusammengetrieben und dort verhungern ließen und der Ruhr aussetzte. Besser als alle Agitatoren der politischen Hauptverwaltung zusammen genommen zeigte und bewies die faschistische Leitung den Soldaten der Roten Armee, dass die Gefangenschaft keine Rettung vor dem Tod bedeutet. Die seinerzeit auf Initiative des Armeekommandos angefangene Befreiung der gefangenen Rotarmisten einiger Nationalitäten hörte am 13. November 1941 auf. Und dann kam ein früher grimmiger Winter, in dem vor Kälte, Hunger und an Krankheiten zwei Drittel der Gefangenen 1941 starben.

          Mit derselben entschlossenen Klarheit zeigte die Besatzungsverwaltung der überraschten Bevölkerung, dass man die Formel „die Deutschen sind eine gebildete Nation“ vergessen und sich an die „neue Ordnung“ anpassen muss, die sich einfacher als die alte Ordnung herausstellte –Erschießung an Ort und Stelle für jedes Vergehen. Mit provokativer Offenheit wurde dem Volk nahegelegt, dass die Bedienung der Vertreter der „höheren Rasse“ von nun an der einzige Sinn des Lebens für diejenigen sein wird, denen zu leben erlaubt wird. Und nicht allen wurde das erlaubt. Grauenhafte Bilder vom Judengenozid, der Massentod von Kriegsgefangenen, Erschießungen von Geiseln, öffentliche Hinrichtungen – all das erschütterte die Bevölkerung der besetzten Gebiete. Und sogar diejenigen, die im Sommer 1941 den deutschen Einmarsch mit Erwartungen der Änderungen zum Besseren empfingen, waren entsetzt und dachten darüber nach, dass man bei solch einer „neuen Ordnung“ nicht leben kann.

           Ja, natürlich, versprachen die Flugblätter, die in Millionenmengeb von deutschen Flugzeugen fielen, den Soldaten der Roten Armee gutes Essen in der Gefangenschaft und Heimkehr nach dem Kriegsende. Aber das „drahtlose Telefon“ von Menschengereden arbeitete – und arbeitete mit einer wunderbaren Effizienz. So begannen mit jedem Tag und jedem Monat neue und neue Millionen sowjetische Menschen zu verstehen, dass der Krieg, in dem sie kämpfen und sterben mussten, schon nicht um der Befreiung der abermaligen „Klassenbrüder“ in Sansibar, nicht um des endgültigen Sieges „der ewig lebenden Lehre von Karl Marx“ wegen, sondern einfach deswegen geht, damit sie, ihre Familien, ihre Kinder leben und auf das Bessere hoffen können. 

          Und gerade dann begann der Große Vaterländische Krieg.

          Wollen wir nicht vereinfachen. Das Leben der millionenstarken menschlichen Gesellschaft ist unendlich komplizierter als irgendwelches Schema. Die oben vorgeschlagene Formel („Das Reich, das vom Terror verfestigt wurde und von ihm regiert wird“), obwohl sie die Hauptdominanz des Stalinschen Staates widerspiegelt, ist eine äußerst publizistische Vereinfachung der Realität. Die poetische Phrase: "so wie ein Mann, so das ganze sowjetische Volk " – eignet sich nur für ein Lied.   

          Die sowjetische Gesellschaft war sehr und sehr verschiedenartig. Die Aufgabe der angekurbelten industriellen Modernisierung allein durch Ausheben der Kanäle (und dabei noch durch Stehlen westlicher Technologien) zu erfüllen, war unmöglich.  Die Epoche der Modernisierung rief die Entstehung einer millionenstarken „Armee“ der energischen ehrgeizigen Jugend, Kinder der Straßenfeger und Wächter, ins Leben, denen die Revolution den Weg zum Gipfel der Sozialleiter offen hielt. Für sie – junge Ingenieure und Stachanow-Arbeiter, Flieger und Dichter – war die sowjetische Macht „unsere liebe sowjetische Macht“. 

          Das war eine wunderbare Generation, die im Laufe von 10-15 Jahren einen Weg vom Dorfbauernhaus unter einem faulen Strohdach, wo ihre Eltern wohnten, bis zum Lektionssaal einer Hauptstadtuniversität; von der Studentenbank bis zum Direktorzimmer eines riesigen Werkes machte. Eine hohe soziale Mobilität, eine berauschendes Gefühl, dass „die Zeit der Märchen in Wirklichkeit gekommen ist“, ist wahrscheinlich ein mächtigeres „soziales Halluzinogen“ als materieller Komfort als solcher. Stalin verstand das, unterstützte gekonnt den „Sturm und Drang“ der sowjetischen Jugend, setzte geschickt ehrgeizige „empfohlene Leute“ für die Sicherung des ununterbrochenen Personalrotation auf höheren Stufen der Verwaltungsleiter ein. Die ganze Macht der propagandistischen Maschinerie des totalitären Staates war darauf ausgerichtet, bei der sowjetischen Jugend den Eindruck einer fühlbaren und nahen strahlenden Zukunft zu erwecken, zu der in unserem Land „alle Wege offen stehen“. Diese äußerst aktive, aber zahlenmäßig relativ geringe soziale Schicht wurde zu der „Reserve des Hauptkommandos“, die in der kritischen Situation half , den totalen Untergang  des Stalinschen Staates zu verhindern.  

         Schließlich schlägt der Autor durchaus nicht vor, die ganze Kriegsgeschichte auf die Soziologie und um so mehr – auf die Beschreibung psychologischer Effekte und Affekte zu beschränken. "Aber weißt du, wo unsere Stärke liegt, Basmanow?/ Nein, nicht im Heer, nein, nicht in der polnischen Hilfe/ sondern  in der Meinung; ja! In der des Volkes" -  sagt eine der handelnden Personen in „Boris Godunow“ von Puschkin. Schön gesagt, aber man soll nicht vergessen, dass sich die Armee nicht nur auf die „Volksmeinung“, sondern auch auf den Befehl und Disziplin stützt. Die Rolle eines Feldherren ist groß, und dort, wo Kommandeure und Kommissare Ordnung und Lenkbarkeit aufrechterhalten konnten, ihre Soldaten vor der allgemeinen Panik bewahren konnten – dort bekam der Feind eine heftige Abwehr schon in den ersten Kämpfen. Solche Divisionen, Regimente, Bataillone, Batterien gab es auf jedem Frontabschnitt. Dutzende Tausende Soldaten und Kommandeure der Roten Armee begannen ihren Vaterländischen Krieg schon in der Morgendämmerung am 22. Juni 1941. Ohne Nachbarn, ohne Verbindung, ohne Hoffnung, am Leben zu bleiben, im Chaos der allgemeinen Flucht, zwangen diese sich stur nicht ergebenden Batterien und Bataillone wieder und wieder die Deutschen, sich von der Marsch- zur Kampfordnung zu entfalten, verlangsamten das Tempo der Offensive, trieben dem Feind Hochmut aus.  

         "In der Gemeinschaft fürchtet der Mensch auch den Tod nicht".  Um die namenlosen Helden der ersten Kriegstage machte auch dieser bescheidene Trost einen Bogen. Ihnen stand bevor, in der Unbekanntheit zu fallen, ohne erfahren zu haben, ob es ihnen gelungen war, um den Preis ihres Lebens den einzigen gemeinsamen Sieg näher rücken zu lassen. Der Mehrheit von ihnen bekam keine Orden, keinen Ruhm, und sogar keinen Grabstein. Aber gerade sie retteten das Land mit ihrer aufopferungsvollen Heldentat.  Sie gewannen die kostbare Zeit, die dafür notwendig war, die Einstellung des Volkes zum Krieg grundlegend zu ändern. Wir werden über den riesigen Maßstab der materiellen und technischen Vorbereitung der Roten Armee, über die Quantität und Qualität der sowjetischen Bewaffnung nicht vergessen.  Sogar ein Zug der Panzer KV (3 Panzer) konnte eine mechanisierte Kolonne der Wehrmacht zerstören und zerdrücken, sogar eine Garnison einer Langzeitfeuerstelle, verdeckt mit unzerstörbaren Betonwänden, konnte das ganze Ufer eines grenznahen Flusses mit Leichen deutscher Soldaten besäen…

          Schließlich soll man den geographisch-natürlichen Faktor nicht außer Acht lassen. Man soll ihn nicht absolut machen, aber es ist absurd, die Tatsache zu verneinen, dass die große Weite des russischen Raums die Armee der Invasoren verschlang und auflöste. Napoleon hatte es leicht. Seine Armee, indem sie sich in einen Faden ausstreckte, ging mit einer Kolonne nach Moskau. Die Wehrmacht begann seinen Angriff an der Front von Kaunas bis Peremischl (ungefähr 700 km geradeaus), und zum Jahresende wurden die Kämpfe schon an der Front von Tichwin bis Rostow-am-Don (1600 km gerade) geführt.  Die Kommunikationen der deutschen Armee dehnten sich ununterbrochen aus. Jedes Geschoss und Liter Benzin mussten eine sehr lange Strecke von anderthalb- oder zweitausend Kilometern zurücklegen, bevor sie die Front erreichten. Diese Kommunikationslinien mussten bewacht, mit der Flugabwehr und Garnisonen versorgt werden. Und mit Herbsteinbruch verwandelten sich die unbefestigte Landstraßen in Mittelrussland sogar in ein für die Technik der Wehrmacht ungangbares Schlammmeer.

         Nachdem Hitler eine ganz reelle Chance für die Liquidation der Ostfront auf politischem Wege verpasst hatte, fand er keine Zeit, das ganze vorhandene Kriegspotential für die Erreichung des Sieges auf dem Kampffeld maximal zu verwenden. Dutzende Divisionen der Wehrmacht, Hunderte Tausende Militärs, Millionen Reservisten im tiefen Hinterland bereiteten sich auf die „Operationen des Zeitraums nach dem Unternehmen Barbarossa“ vor, während die Truppen der Ostfront in erbitterten Kämpfen verheizt wurden. Sogar die relativ mäßigen Verluste, die deutsche Truppen im Sommer 1941 erlitten, wurden durch neue Technik und Personal nicht in vollem Umfang ersetzt. Die Deutschen ereichten Moskau nicht. Durch Kämpfe im Laufe von vielen Monaten entkräftete Divisionen der Wehrmacht krochen bis nach Moskau auf dem letzten Atemzug.  Dort auf schneeweißen Feldern bei Moskau wurden die frierenden Reste der Ostarmee von Dutzenden frischer Divisionen der Roten Armee zerschlagen, die aus Sibirien und Fernem Osten verschoben wurden  …

 

        … Unsere Erzählung ist zu Ende gegangen. Es bleibt nur übrig, die Frage zu beantworten, die mit dem Titel des letzten Kapitels gleichlautend ist. Selbstverständlich kann es keine Rede von der Feststellung irgendwelches genauen Datums des „Großen Wendepunkts“ sein. Es gibt keine „Schalter“, die in mit einem Schlag eine tiefe Umwandlung im Bewusstsein des riesigen multinationalen Volkes vollziehen können. Und nichtsdestotrotz kann und muss man doch manche ziemlich rationelle Kriterien und begründete Zeitrahmen angeben.

           Schlagen wir noch einmal den statistischen Sammelband „Geheimhaltungsvermerk gelöscht“ auf. Und diesmal auf Seite 152. Dort ist eine Tabelle der unwiederbringlichen (Gefallene und Vermisste) und sanitären (Verwundete und Kranke) personellen Verluste der bestehenden Armee mit Aufteilung in Jahresviertel des jeden Kriegsjahres angeführt. 

          Die traurigen Erfahrungen einer großen Menge der militärischen Auseinandersetzungen im 20. Jahrhundert zeigen, dass es irgendwelches ganz stabile Verhältnis zwischen den Gefallenen und während der Kampfhandlungen Verwundeten gibt. 1 zu 3. Auf einen Ermordeten fallen drei Verwundete. Nebenbei gesagt, traf dieses Verhältnis auf die Verluste der Wehrmacht 1941 zu. Vielleicht widerspiegeln diese Zahlen irgendwelches fundamentale Verhältnis zwischen der „Stärke“ des menschlichen Körpers und der überraschenden Einwirkung der Waffe in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts. Wie dem auch sei, der Anteil der sanitären Verluste in der Situation eines „normalen Krieges“ (verzeihen Sie mir diesen zynischen Ausdruck) muss 75 % von der Gesamtzahl der Verluste betragen. Besser gesagt, er muss sogar über 75 % liegen, weil es außer der Verwundeten auch Erkrankte gibt, und unter den Menschen, die in mit Schmutz überfluteten Schützengräben monatelang lagen, kann es ihrer nicht wenige sein. 

         Und was zeigt uns Tabelle 72?

         Im dritten Vierteljahr 1941 (d.h. im Laufe der ersten drei Kriegsmonate) betrug der Anteil der sanitären Verluste an allen Verlusten nur 24, 66 %. Mit anderen Worten, stellte sich das Verhältnis der unwiederbringlichen und sanitären Verluste als nicht 1 zu 3, sondern  3 zu 1 heraus. Das ist ein sehr finsteres „Wunder“. Dahinter steckt eine Großzahl von Gefangenen und Fahnenflüchtigen (die den Großteil der unwiederbringlichen Verluste der Roten Armee im Sommer 1941 bildeten), dahinter steckt eine Tragödie der dem Gegner zur Zerfleischung preisgegebenen Verwundeten, die ins Hinterland nicht abtransportiert und die folglich unter „sanitäre Verluste“ nicht erfaßt wurden.

        Im vierten Vierteljahr 1941 vergrößerte sich der Anteil der sanitären Verluste fast doppelt - 40,77 %.  Solche Verhältnisse sind sehr und sehr weit von der Situation in einer normalen kämpfenden Armee entfernt, aber immerhin sind die Änderungen offensichtlich.

        Im ersten Vierteljahr 1942 - schon  65, 44 %. Das ist fast die "Norm".

        Im zweiten und dritten Vierteljahr - 47,48% и 52, 79 % dementsprechendDie Deutschen überwinterten, sammelten ihre Kräfte und trieben tausendfache Kolonnen von Gefangenen aus den „Kesseln“ bei Kertsch und Charkow wieder. Aber wir betonen, dass sich die schreckliche Situation vom Sommer 1941 nicht mehr wiederholte!

         Bis Ende 1942 wächst der Anteil der sanitären Verluste fast auf einen „normalen“ Wert von  67,25 %.  Weiter folgen bis Siegesmai 1945 solche Zahlen: 79, 75, 76, 77, 79, 78... Das Vorliegen einer prinzipiellen qualitativen Änderung des Verlustgefüges ruft keinen Zweifel hervor. Die Umstellung von 3 zu 1 auf 1 zu 3 kann keinesfalls auf Fehler in statistischen Angaben zurückzuführen sein.  Auf der Hand liegt eine qualitative Änderung des Armeezustands zwischen 1942 und 1943. Die Armee hörte auf, sich zu zerstreuen, wodurch der Anteil der Gefangenen und Fahnenflüchtigen auf einzelne Prozenten von Gesamtverlusten sank.

         Ich möchte mich bei allen entschuldigen, die ich mit dieser zynischen Arithmetik des menschlichen Kummers unwillkürlich beleidigt habe. Glauben Sie mir, ich verstehe die ganze Hinfälligkeit des „Prozentspiels“, wenn hinter diesen Prozenten Millionen Tote und Krüppel stecken. Aber was tun, die Arbeit des Kriegshistorikers ist nicht bedeutend attraktiver als die eines Pathologen. Glauben Sie mir, Historiker und Pathologen machen das, was sie machen, nicht wegen des ungesunden Faibles für das Leichengestank, sondern um eine endgültige, immer verspätete, aber möglichst genaue Diagnose zu setzen …

 

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